Arbeit, Prävention, Zukunft: Wohin geht die Reise? BGW magazin 3/2024

Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus? Manches ist noch nicht absehbar, anderes längst zu spüren. Worauf sich Betriebe einstellen müssen und welche Rolle die Prävention dabei spielt, beleuchtet Hanka Jarisch, die neue Präventionsleiterin der BGW.

Hanka Jarisch, BGW Präventionsleiterin
Arbeitspsychologin Hanka Jarisch ist seit 2012 für die BGW tätig. Zuvor befasste sie sich unter anderem bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) mit dem Arbeitsschutz in der Pflege. Bei der BGW übernahm sie nach Stationen als Aufsichtsperson und als Leiterin der Bezirksstelle Dresden im April 2024 die Präventionsleitung.
Es geht um Zuversicht (...) Und um den Mut, Fehler zu machen, vielleicht erst den falschen Weg einzuschlagen und später nachzusteuern oder auch mal neu anzufangen.
Themenfeld: Flexibilität
Fragen und Antworten:Arbeit, Prävention, Zukunft – Wohin geht die Reise?
Stimmt! Ich pendle derzeit viel zwischen Dresden und Hamburg. Im Grunde lebe ich die moderne Arbeitswelt, mit vielen Terminen, Büroarbeit und Homeoffice, dem Wunsch, für meine Familie da zu sein, und spannenden beruflichen Herausforderungen. Das Thema Prävention drängt sich geradezu auf: Was bedeuten solche Rahmenbedingungen für Unternehmen? Wie geht es den Beschäftigten? Wie lässt sich ein gesunder und sicherer Arbeitsalltag gestalten?
Es ist stets eine Gratwanderung. Zum Beispiel kann nicht für jede Person ein individuelles Arbeitsmodell angeboten werden. Arbeitgebende sind heute aber gut beraten, den Menschen ganzheitlich in den Blick zu nehmen und auf Beschäftigte einzugehen. Auf dem Arbeitsmarkt stehen weniger Menschen zur Verfügung. Und wenn diese dann schon mit einem "vollen Rucksack" an persönlichen Herausforderungen zur Arbeit kommen, wird es für Unternehmen schwierig. Denn um am Markt zu bestehen, sind sie auf gesunde und motivierte Beschäftigte angewiesen. Unterstützung kann also ein Schlüssel sein, von dem beide Seiten profitieren. Aus Untersuchungen rund um die Covid-19-Pandemie wissen wir, dass Teams mit gutem Zusammenhalt und guter sozialer Unterstützung untereinander sowie vonseiten der Führungskräfte besser durch herausfordernde Arbeitssituationen und Krisen kommen. Es gibt also jenseits vom klassischen Arbeitsschutz weitere Stellschrauben für die Gestaltung guter Arbeitsbedingungen auch im Sinne der Prävention.
Themenfeld: Psyche
Fragen und Antworten:Arbeit, Prävention, Zukunft – Wohin geht die Reise?
Den Rahmen bildet die Gefährdungsbeurteilung, speziell auch im Hinblick auf psychische Belastungen. Mein Lieblingsinstrument, um herauszufinden, wo bei Beschäftigten der Schuh drückt, sind Gruppendiskussionen. Hier können alle ihre Bedürfnisse einbringen und sich am Entwickeln von Maßnahmen beteiligen. Natürlich muss auf Unternehmensseite geschaut werden, was machbar ist. Ein solches Instrument passt in die heutige Arbeits- und Lebenswelt, da es mehr denn je auf ein gutes Arbeitsklima und eine offene Unternehmenskultur ankommt. Mitgestalten können, Handlungsspielraum haben, das sind auch wesentliche Faktoren für die Arbeitszufriedenheit.
Themenfeld: Führung
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Sie brauchen auf jeden Fall selbst ausreichend Handlungsspielraum. Diesen müssen Unternehmen ihnen einräumen. Meiner Ansicht nach tun Führungskräfte gut daran, ihren Handlungsspielraum aktiv auszuschöpfen und Rahmenbedingungen mitzugestalten. Reine Fachführung reicht heute kaum mehr aus und verschenkt Chancen. Führung geht aber nicht zwischen Tür und Angel. Es braucht Zeit, sich mit den Arbeitsbedingungen zu befassen, auf Beschäftigte einzugehen, sich zu informieren. Es braucht Zeit, Handlungskompetenz als Führungskraft aufzubauen – zum Beispiel in Seminaren, in kollegialer Beratung. Es braucht nicht zuletzt Zeit fürs Umsetzen von Lösungen im Betrieb. Das alles gilt im Übrigen auch für den Arbeitsschutz.
Möglicherweise stehen sie schon in der Gegenwart unter Druck. Betriebe können unter denselben Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich aufgestellt sein. Sichere und gesunde Arbeitsbedingungen tragen maßgeblich dazu bei, Personal zu gewinnen und zu halten sowie gute Leistungen zu erbringen. Prävention ist für mich daher ein wichtiges Thema, um die Zukunft der Arbeitswelt zu gestalten.
Unternehmen müssen generell damit rechnen, dass es häufiger zu Veränderungen kommt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass beispielsweise Prozesse zehn Jahre lang unangetastet bleiben können. Leitungen und Führungskräfte sollten Beschäftigten das Gefühl vermitteln, dass es vielleicht nicht sofort eine Lösung für alles geben kann, aber dass auch niemand den Kopf in den Sand stecken will. Es geht um Zuversicht – "Wir bekommen das schon hin!". Und um den Mut, Fehler zu machen, vielleicht erst den falschen Weg einzuschlagen und später nachzusteuern oder auch mal neu anzufangen. Ich halte es für wichtig, offen darüber zu sprechen, Zwischenstände zu kommunizieren und zuzuhören, wenn Lösungsideen aus dem Team oder von anderen Seiten kommen. Das ist ein wesentlicher Baustein für gesundes Führen – das haben wir auch in Studien der BGW gesehen.
Themenfelder: Vielfalt und Prävention
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Arbeits- und Lebenswelten greifen sicherlich stärker ineinander. "Arbeitszeit ist Lebenszeit und Lebenszeit soll schön sein" – so würde ich eine Haltung zusammenfassen, die an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig nimmt aber die Vielfalt in der Belegschaft zu, nicht nur bei der Einstellung zur Arbeit. Deshalb müssen Betriebe darauf achten, möglichst alle mitzunehmen. Das erstreckt sich bis hin zur Gestaltung des Arbeitsschutzes.
Ja, das sehe ich so. Je nach Herkunft, Generation, Geschlecht und weiteren Merkmalen können Menschen beispielsweise unterschiedlich sozialisiert sein. Sie bringen dann unterschiedliche Erwartungen und Herangehensweisen mit. Darauf muss man eingehen. Vielleicht ist jemand riskanteres Verhalten gewohnt oder weiß wenig mit Unterweisungen und Regeln anzufangen. Oder versteht sie zunächst gar nicht. Mit solchen Herausforderungen sind Unternehmen nicht nur bei ihren Mitarbeitenden konfrontiert. Auch der Umgang mit Kundschaft oder Angehörigen muss in den Blick genommen werden. Denn er kann bei den Beschäftigten ebenfalls zu Belastungen führen. Es braucht deshalb nicht zuletzt interkulturelle Kompetenzen. Auch bei der BGW beschäftigen wir uns damit, wie wir unsere Angebote anpassen können, um alle anzusprechen und Betriebe beim Thema Vielfalt – genauso wie im Übrigen bei der Inklusion – zu unterstützen.
Themenfeld: Klimawandel
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Der Klimawandel fordert uns alle – jeden Menschen, jedes Unternehmen. Es geht einerseits um klimafreundliches Verhalten, damit wir das Fortschreiten zumindest eindämmen können. Andererseits sind wir angehalten, uns mit den teilweise schon jetzt gravierenden Auswirkungen auseinanderzusetzen. Veränderungskompetenz, Klimakompetenz – solche Fähigkeiten werden für die Arbeitswelt der Zukunft entscheidend sein. Konkret muss sich der Arbeitsschutz schon heute mit neuen Gefährdungsfaktoren befassen. Man denke nur an die steigende Hitzebelastung, die Zunahme von Allergien durch die höhere Pollenbelastung oder auch die Auswirkungen von Umweltkatastrophen wie Stürmen oder Flutereignissen.
Themenfeld: Digitalisierung
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Für mich ist immer noch nicht richtig abzusehen, wohin hier die Reise geht – nur dass wir mittendrin sind in großen Umwälzungen. Ich kann mir viele spannende Anwendungen vorstellen, die auch der Prävention dienen. Den KI-gesteuerten Chat, der Telefon- und Servicezeiten-Nadelöhre beseitigt und Mitarbeitende entlastet. Oder das Tool, das automatisch auf Arbeitssituationen hinweist, die zu körperlichen Belastungen führen können, beispielsweise beim Heben und Tragen. Einiges ist sogar längst möglich, jedoch noch nicht breitflächig zum Einsatz in den Betrieben gekommen. Auch, weil Fragen zum Datenschutz und ähnliche Aspekte zu klären sind – Fragen, die nicht unter den Tisch fallen dürfen. Das gilt auch im Hinblick auf die Menschen, die mit der neuen Technik konfrontiert sind. Nicht alle sind technikaffin. Wir sind also wieder beim schon angesprochenen Punkt: Darauf müssen Betriebe eingehen und auch diejenigen mitnehmen, die zunächst skeptisch sind. Die Gefährdungsbeurteilung muss neue Arbeitsmittel und den Wandel der Technik sowie der Prozesse unter die Lupe nehmen. Gibt es Bedenken der Beschäftigten oder Probleme bei Arbeitsabläufen? Wie wirkt sich der ständige Wandel auf die psychische Belastung aus?
Themenfelder: Entbürokratisierung, Gewaltprävention
Fragen und Antworten:Arbeit, Prävention, Zukunft – Wohin geht die Reise?
Zum einen finde ich Entbürokratisierung unerlässlich. Viele Einrichtungen im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege, die ich aus meiner Tätigkeit, aber auch aus persönlicher Erfahrung kenne, sind durch Personalmangel an ihren Grenzen. In manchen Fällen gefährdet das sogar die Akutversorgung von Patientinnen und Patienten. Entbürokratisierung kann dringend benötigte Freiräume schaffen. Dafür sollten wir uns alle engagieren. Intern in den Unternehmen kommt es zum anderen darauf an, mit Standardprozessen Ressourcen freizuschaufeln. Ich habe im familiären Umfeld leider erleben müssen, wie Menschen länger in medizinischen Einrichtungen bleiben mussten – unter anderem weil es beim Entlassungsmanagement gravierende Probleme gab.
Ein weiteres Anliegen ist mir die Gewaltprävention. Leider ist das ein großes Thema. Es klemmt eh an vielen Stellen – und dann erleben Beschäftigte viel zu oft, dass bei den Menschen, um die sie sich kümmern, und deren Angehörigen das Gewaltrisiko steigt. Diese Gefährdung dürfen Unternehmen, aber auch wir als Gesellschaft nicht ausblenden, sondern müssen etwas dagegen tun. Wie wichtig eine klare Haltung und ein entschiedener Einsatz gegen Hass und Gewalt sind, sehen wir aktuell an vielen Stellen.
Themenfeld: Vernetzung
Fragen und Antworten:Arbeit, Prävention, Zukunft – Wohin geht die Reise?
Viele, gerade kleine Betriebe können es nicht auch noch schaffen, über alle Veränderungen gleichermaßen den Überblick zu behalten. Darum sollten sie sich gut vernetzen, zum Beispiel über Verbände und weitere Branchenorganisationen. Sie können zudem noch stärker auf uns als Partnerin setzen. Als BGW sind wir eine bundesweit aufgestellte Anlaufstelle für die bei uns versicherten Branchen. Wir horchen sozusagen in Branchen hinein und greifen Trends oder neue Herausforderungen auf. Unterstützung bieten wir auf vielen Wegen – nicht von ungefähr haben wir uns "mit allen geeigneten Mitteln" auf die Fahnen geschrieben.
Ich beziehe das nicht nur auf die Rehabilitation, also die Hilfe für unsere Versicherten in dem Fall, dass es schon zu einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit gekommen ist. Sondern auch auf unsere Präventionsleistungen, die darauf abzielen, genau das zu verhindern. Wir beraten und überwachen Unternehmen. Aber wir setzen auch auf Information, Qualifikation, Anreizsysteme und vieles mehr. Menschen und Unternehmen sind sehr vielfältig – wir möchten sie entsprechend individuell und vielfältig ansprechen. Unser Ziel ist es, die Etablierung einer Präventionskultur in den Betrieben zu unterstützen.
Aber ja! Das ist entscheidend. Ich sehe das bei mir selbst. Mich motiviert zum Beispiel auch meine Rolle als Mutter, als Tochter, als jemand, dem es wichtig ist, die Rahmenbedingungen für systemrelevante Berufe und Dienstleistungen zu verbessern. Und um das wieder auf unser Thema Gesundheit und Arbeit im Wandel zu beziehen: Prävention ist für mich die Grundlage für Gesundheit und unverzichtbar für unsere Arbeitswelt der Zukunft. Wie man so schön sagt: Ohne Gesundheit ist alles nichts.
Hanka Jarischs Tipps ...
Von: Anja Hanssen